6.11.2012

Die Pharmaindustrie und das "Kokain der Armen"

Gerichtsverhandlung am Zittauer Amtsgericht gegen ein Ehepaar wegen des Vorwurfs des illegalen Handels mit Drogen (§ 29 BTM). Bezogen haben soll das Ehepaar die Drogen von Herstellern aus der benachbarten Tschechischen Republik. Ein als Zeuge geladener Kriminalkommissar schildert die Situation auf dem dortigen Drogenmarkt. Bisher habe es in Tschechien vor allem Hinterhof-Drogenküchen gegeben. Mittlerweile aber gebe es schon mobile Küchen. So versuchten die Drogenhersteller der Verfolgung durch die tschechische Polizei besser entgehen zu können. Andererseits sei der Besitz von zwei Gramm Chrystal in der Tschechischen Republik seit dem 1. Januar 2010 straffrei. Und auch der Wegfall der Grenzkontrollen spiele der bilateralen Drogenproduktion und dem Konsum  in die Hände.
In der Hauptsache werde Chrystal hergestellt und Pico. Pico sei im Grunde genommen ein Abfallprodukt der Chrystal-Synthetisierung, es ähnle Sand und habe einen relativ ekeligen Geschmack. Fünf Gramm des Stoffes sei um die 60 Euro teuer. Grundstoff für die Chrystal und Pico-Produktion sei ausgerechnet das deutsche Arzneimittel "Reactine duo", ein Medikament zur Behandlung von Allergien (von Heuschnupfen bis dermatologische Erkrankungen). Es könne davon ausgegangen werden, dass das frei verkäufliche Medikament von Deutschen gekauft und in die benachbarte Tschechische Republik gebracht und auf dem Rückweg eben als Chrystal oder Pico reimportiert werde.
Über den Umfang der Drogenaktivitäten gibt es keine annähernd genauen Zahlen, aber über die Auswirkungen. So schreibt die "Sächsische Zeitung" Dresden heute, dass die sächsischen Beratungsstellen innerhalb eines Jahres 30 Prozent mehr Chrystal-Süchtige gezählt hätten, dass der sächsische Süchtige im Durchschnitt 24 Jahre alt ist  und "es die deutsch-tschechischen Grenzgebiete (sind), in denen am meisten Chrystal geschnupft und gedealt wird".
Das angeklagte Ehepaar hat seit 2006 unterschiedliche Drogen, hauptsächlich aber Chrystal, Pico und Extasy konsumiert.  Anfang 2010 sind sie ausgestiegen, nachdem die Ehefrau unter Drogen stehend einen Auffahrunfall verursachte, der mit einem Fahrerlaubnisentzug und einer dreijährigen Fahrerlaubnissperre geahndet wurde.  Der Anklagevertreter fragte die Eheleute direkt: Warum haben Sie überhaupt mit dem Drogenkonsum angefangen?  "Ich habe nicht allzulange vorher meine Arbeit verloren. Das hat uns erhebliche Probleme beschert. Und dann hat einer meiner Freunde eines Tages gesagt: Komm, zieh dir mal was rein und vergiss die ganze Scheisse". Ja, so war es gekommen.
Das ist eine annehmbare Begründung und wird in dem Artikel "Teufelsdroge verbreitet sich in Sachsen" ähnlich dargetellt: "Fast zwei Drittel (hilfesuchender Konsumenten) waren arbeitslos und erhielten Arbeitslosengeld".  Mit Sicherheit meint der Autor Arbeitslosengeld II oder präziser "Hartz IV".
Wenn die Alarmglocken schon schrillen, dann müssen wir natürlich auch die Frage stellen, was wir als Gesellschaft gegen die wachsende Drogensucht unternehmen? Und genau darauf gibt es nur eine sehr ärmliche Antwort. Fast nichts! Zitat aus der "SZ": "Sachsens Polizeibehörden hätten Chrystal zwar als Problem erkannt. Gemeinsam führen sie mehrmals im Jahr Großrazzien auf den Autobahnen und an den Grenzübergänge durch. . " (auch zweimal ist mehrmals). Trotzdem steige der Beratungsgbedarf (siehe Zuwachs von 30 Prozent im vergangenem Jahr) in den Suchtberatungsstellen sinken die Beratungszahlen. Ein Grund daür ist, dass es immer weniger Geld für die Beratungsstellen gibt und deshalb schon acht Suchtberater entlassen werden mussten. Nun ja,  es reicht das Geld nicht für die Verluste der pleitegegangenen Sächsischen Landesbank u n d die Beratungsstellen für Suchtkrankheiten.
Und noch eine Frage bleibt offen. Was ist mit "Reactine duo", dem Grundstoff für die Chrystal-Produktion.  2011 sollte das Medikament rezeptpflichtig werden, um die Verfügbarkeit für die Drogenköche zumindest einzuschränken. "Da sei Gott vor", muss die Pharamindustrie sich selbst und den zuständigen Politikern gesagt haben. Es wurde nur die Packungsgröße verändert/verkleinert. Ich bin mir nicht mal sicher, ob sich damit auch der Preis pro Packung verringert hat.
Jedenfalls habe ich heute, nach der Gerichtsverhandlung, in meiner Apotheke vorsichtshalber nochmals nachgefragt. "Können sie bekommen", sagte meine Apotheken-Stammverkäuferin.
Und ein letztes Problem. Ich zitiere noch einmal aus der "SZ": "Das gefährlichste ist, wenn die Menschen clean sind und hilflos in ihre alte Umgebung zurückkehren. Nicht wenige werden dann wieder rückfällig".
War da was? Hhmmm, normaler Verschleiss wohl!


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