6.11.2009

Der Arzt als Daten-Dealer?

Morgens halb Zehn in einem deutschen Wartezimmer: Der Raum ist schätzungsweise fünf mal fünf Meter. Das macht rund 20 Meter Wand, abzüglich einer ziemlich freundlich gestalteten Kinderspielecke. Am Rest der Wände stehen Stühle, genau 15 davon von Patienten besetzt. Die meisten schweigen die Wände an oder blättern in den üblichen verdächtigen Fortbildungs-Medien a la "Super-Illu" oder Broschüren der Pharma-Industrie. In der Stuhlreihe an der Wand links sind noch ein paar Plätze frei. Ich nehme punkt 9.25 Uhr - fünf Minuten vor dem vereinbarten Termin - den Stuhl neben zwei Männern, die in ein Gespräch über ihre Krankengeschichten vertieft sind. Einer von beiden hat ein paar blaue Krücken dabei. Er sei gerade aus Rothenburg zurück - "Hüftgelenk" sagt er und alles sei gut gegangen. Wie schon vor zwei Jahren mit den beiden neuen Kniegelenken. Der andere winkt ab. "Mir wollten sie einen Oberschenkelhalsbruch reparieren mit Schrauben und ham´s versaut. Nach drei Tagen hatte ich eine Entzündung drin. Das war vor einem Jahr. Seitdem odysseiiere ich durch alle möglichen Kliniken und kann trotzdem noch nicht wieder richtig laufen. Zuerst wollten sie mir die Schrauben wieder entfernen, konnten es aber nicht, weil sie - angeblich- nicht das passenden Werkzeug dazu hätten". War der auf der ISS? Die haben dort ja auch immer das nicht richtige Werkzeug. Oder das Werkzeug versagt, wie letzlich beim Außeneinsatz die berüchtigte kaputte Ratsche. Ich beschloss wegzuhören, als der mit den blauen Kücken tief Luft holte: "Hat meine Großmutter schon gesagt. Willste nicht alt und krank sterben, musste dich früh genug aufhängen!"
In gleichen Augenblick sagt einer, der mit seiner Frau in der Diagonale mir gegenüber saß mit außerordentlicher Entschiedenheit: "Nein, das unterschreibe ich nicht. Das nicht! Zerknüllte einen Zettel und warf ihn in einen Papierkorb in seiner Nähe. Was gehen denn Versicherungen oder Gutachtern meinen Patientendaten oder Krankengeschichten an, polterte er weiter. Ich zuckte gedanklich mit den Schultern. Was mag der bloß haben?
Vier Plätze neben dem Ehepaar hockte eine sichtlich verdrossen vor sich hinblickende Damen um die 60. Irgendetwas bohrte in ihr. Eine halbe Stunde murmelnde Stimmen später platze sie: "Jetzt reicht es. Seit halber Neune sitz ich hier und nichts tut sich, weil so ein Affe von Pharma-Vetreter dem Doktor und uns die Zeit klaut. Ich gehe jetzt mal fragen, was werden soll. Sprach´s und verließ mit inzwischen zornigen Gesicht das Wartezimmer, segelte in Richtung Anmelde-Theke. Was draußen geredet wurde, konnte ich nicht verstehen. Die meuterwillige Dame kam zurück ins Wartezimmer. Auf ihrem Gesicht glitzerte ein Anschein von Triumpf. Und zwei Minuten später kam tatsächlich ein Herr mit einem dicken Pilotenkoffer aus dem Arztzimmer. Ein bißchen hastig.
Gegen 11.30 Uhr wollte ich platzen. . . . Mittlerweile hat das Personal der Praxis geschlossen auch noch die obligatorische Kaffeepause absolviert. Aber noch bevor ich aus der Haut fahren konnte, war ich dran. Die Schwester drückte mir einen Zettel halbA4groß in die Hand.
"Erklärung zur Schweigepflichtsentbindung" oben als Überschrift. Mit meiner zu leistenden Unterschrift sollte ich meinen Hausarzt von seiner ärztlichen Schweigepflicht zu entbinden (siehe Faksimile) zugunsten Krankenhäusern, Fachärzten, Gutachtern, Versicherungen, dem med. Dienst der Krankenkassen. Den Zettel haben ich meinem Hausarzt ununterschrieben über seinen Schreibtisch zurückgeschoben. Meine Daten sind meine Daten. Sie gehören gleich gar nicht pauschal Versicherungen oder Gutachtern.
Mein Doktor ist sonst ein lustiger Vogel. Als ich mir einmal beim Autofahren mit offener Seitenscheibe erst Zug und dann einen steifen Hals geholt hatte, kommentierte er das mit den Worten: Ja, kommt vor, übermäßiger Gbrauch von Viagra kann schon mal zum steifen Hals führen". Es war jetzt das erste Mal, dass er mich ohne einen solchen Schlußspaß aus seiner Praxis entließ. Es war ja auch keiner.