6.20.2013

Und noch ein offener Brief!


Selbstkritik einer Beschäftigten des Staatsfernsehens in Griechenland


Eine Beschäftigte der geschlossenen öffentlichen Rundfunk- und Fernsehanstalt ERT geht mit sich ins Gericht, weil sie 150 Euro mehr als vergleichbare Arbeitnehmer verdiente:

Ich möchte meine Selbstkritik machen, da – wie ich höre – die Krise allem voran ideell ist und als primäres Ergebnis haben müsste, dass wir uns alle in Selbstkritik üben. Ich wurde also im August vergangenen Jahres bei der ERT eingestellt und mein Gehalt als Vetragsbedienstete betrug 620 Euro netto. Ebenfalls war ich versichert. Meine Freunde verdienten dagegen (bei anderen Arbeitgebern) 500 Euro, obwohl sie adäquate Arbeiten ausführten. Ich befand mich also in der Lage, die zusätzlichen 120 Euro rechtfertigen zu müssen.
Ich war eine gierige ideologische Träumerin. (br)Meine Freude war jedoch groß. Es war mein erstes Gehalt, das etwas besser als das der anderen erschien. Und dann entschloss ich mich, zum Augenarzt gehen zu müssen, und nach 5 Jahren besuchte ich also den Augenarzt. Und dann dachte ich, es sei eine Gelegenheit, den Gynäkologen zu besuchen, den ich bisher mied, weil er viel kostet. Nach zwei Jahren ging ich also zum Gynäkologen. Ich dachte mir ebenfalls, es sei eine Gelegenheit, einen kleinen Läufer für den Eingangsbereich, einen Vorhang für das Bad und zwei Kerzen zu kaufen, um meine Wohnung in Kypseli zu verschönern.

Gedanken, mit denen ich mich seit geraumer Zeit trug, jedoch ebenfalls in der Annahme vermied, dass in meinem Leben der Läufer, der Vorhang und die Kerzen wohl doch nicht so wichtig seien. Und als ich schließlich eines Tages an dem Buchladen in meiner Nachbarschaft vorbeikam, stellte ich höchst erfreut fest, wie viele Bücher dieser vergessene Buchladen hatte, der wegen der Krise 30% Rabatt auf seine Preise auslobte. Und mit meinem Geld nutzte ich die Not des Buchhändlers in Krisenzeiten aus und überlegte mir, ein Geschichtsbuch zu kaufen um auch meiner kulturellen Bildung Sorge zu tragen. Ich kaufte “Der dunkle Kontinent” von Mazower, voller Freude, die abseits meiner Schulbücher von einem kritischen Standpunkt geschriebene Geschichte zu lesen.

Am Dienstagmorgen ging ich zu meiner Arbeit, erfuhr jedoch am Abend, dass ich entlassen wurde. Mein Krankenversicherung, mein inzwischen geregelter Haushalt, mein Buch waren wohl ein Traum, an den ich – wahrscheinlich naiv – glaubte. Scheinbar war ich all das nicht wert, vielleicht weil ich von einem Organismus der Drohnen usw. profitierte. Und ich denke an das Triptychon “Gesundheit – Lebensqualität – Bildung” und befürchte, dass ich – die immer verfolgte, kritisch zu denken – zu einer reaktionären Linken werde, weil auch deren Zitate üblicherweise drei Worte sind. Und ich, die Naive, überdenke es politisch, überdenke es wirtschaftlich ... und bin verwirrt, wo ich falsch lag? Wie es scheint, war ich gierig, eine Ideologin und eine Träumerin.


 Quelle: http://www.griechenland-blog.gr/2013/06/selbstkritik-einer-beschaeftigten-des-staatsfernsehens-in-griechenland/16581/

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