11.17.2012

Kriminell und frei von jeder Sozialprogose?


Amtsgericht Zittau. Steffen K. (43) muss sich vor Gericht verantworten. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, gegen den § 29 des Betäubungsmittelgesetzes verstoßen zu haben. Nach einer Anzeige durch seine Lebensgefährtin und bei einer danach in seiner Wohnung durchgeführten Hausdurchsuchung fanden Polizeibeamte auf einem Wäschetrockner ein komplette Cannabispflanze. Der Angeklagte ist geständig: „Ja, ich habe - versteckt - in der Nähe des Olbersdorfer Sees ein Cannabis-Pflanze angebaut, ausschließlich bestimmt für den eigenen Verbrauch“. Er gibt weiter zu, nicht täglich, sondern bei Bedarf etwa 0,5 Gramm Cannabis zu konsumieren. Die abgeerntete Pflanze hätte, so seine Einlassung, mehr als seinen Jahresbedarf gedeckt. Und: er nehme Cannabis, weil er schon seit etwa 2001 an einer Depression leide. Dieses Mittel ermögliche es ihm überhaupt, mit den Depressionen klar zu kommen.
Die Beschreibung dieser ersten etwa 20 Minuten der Verhandlung mag skurril klingen, aber dieser Eindruck verändert sich im Verlauf der Verhandlung dramatisch.
2001 arbeitet K. als gelernter Baufacharbeiter noch in Österreich. Bei einem Heimataufenthalt trinkt er und benutzt betrunken ein Fahrrad, gerät in eine Kontrolle, wird 2003 dafür schließlich wegen fahrlässiger Trunkenheit im Straßenverkehr bestraft. Er verliert seine Fahrerlaubnis und in der Folge seinen Job. Er ist alkoholsüchtig. Im gleichen Jahr trennt sich seine Frau von ihm. Ihr wird das alleinige Sorgerecht für die gemeinsame Tochter übertragen. Möglicherweise verstärkt das seine Alkohlabhängigkeit. Als er 2004 erstmals nach Großschweidnitz eingewiesen wird, bestätigt eine Untersuchung, dass hinter der Alkoholsucht eine Depression steckt. K. wird in der Klinik mit Antidepressiva behandelt und erholt sich. Allerdings nicht ohne gravierende Nebenwirkungen, beschreibt der Angeklagte. 2005 und 2008 wird er weitere Male eingewiesen. Doch diese beiden Versuche bricht er ab bzw. wird aus disziplinarischen Gründen nach Hause geschickt. Er gilt mittlerweile als selbstmordgefährdet. Auch sein Vater litt unter Depressionen und nahm sich mit 54 Jahren das Leben, stell sich heraus. Und er unternimmt tatsächlich mindestens einen Selbstmordversuch, setzt sich mit einer Flasche Whisky in seine Küche und dreht den Gashahn auf. Seine Mutter findet ihn zufällig und rechtzeitig genug.
2008 muss K. erneut bestraft werden. Im Alkoholrausch hat er einen Mann mit einer Bierflasche niedergeschlagen. Acht Monate Haft ausgesetzt auf drei Jahre Bewährung, lautet das Urteil. In die letzten Wochen der Bewährungszeit fällt die neue Straftat nach dem BTMG.
Wahrscheinlich hat er bereits nach 2008 mit der „Eigenbehandlung“ per Cannabis begonnen. Cannabis sei für ihn das einzige Mittel, das ihm helfe, seine Tage erträglich zu gestalten. Doch ist das so? Richter Ronsdorf befragt eine als Zeugin geladene Großschweidnitzer Psychiaterin. Die Ärztin meint, es gebe Dutzende sich allerdings widersprechender Studien zu diesem Thema. Ihrer Meinung nach könne es durchaus sein, dass bei einer Reihe von Menschen der Cannabis-Wirkstoff THCP helfe. Sie könne nicht ausschließen, das die Droge auch ihm tatsächlich helfe.
Seine seit zwei Jahren neue Lebesgefährtin war früher selbst alkoholabhängig, kennt Suchtprobleme aus eigenen Erleben, ist aber nun schon lange „trocken“. Sie teilt seinen Cannabis-Konsum nicht. Sie reden oft drüber. Als sie ihn in seiner Wohnung besucht, sieht sie die Cannabispflanze auf dem Wäschetrockner. Sie geht zur Polizei und erstattet Anzeige. „Ich wollte, das Schluss ist mit dem Zeug“, erklärt sie vor Gericht. „Wir müssen es anders schaffen, loszukommen von unseren Süchten.“
Wie soll man das Ganze nun rechtlich werten. K. ist vorbestraft, nicht einschlägig zwar. Die Menge (40,3 Gramm THCP) ist fünfmal mehr als eine „geringfüge Menge“, kann also nicht als minderschwerer Fall behandelt werden. K. hat jeden weiteren Versuch der medizinischen Betreuung verweigert und eine positive Sozialprognose kann nicht angenommen werden. Das Gericht verurteilt K. zu einem Jahr Freiheitsstrafe und zu den Kosten des Verfahrens. Während der Verlesung der Urteilsbegründung blickt K. zu seiner Lebensgefährtin, die im Saal anwesend ist, hebt die Hand in Halshöhe und zieht die flache Hand halbkreisförmig über die Kehle.

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