Schreibschrift in Seenot
Unsere deutsche Sprache hat es auch nicht leicht! Wir wissen mittlerweile alle, daß im Hundekuchen kein Hund drin ist und daß ein Zitronenfalter kein Küchengerät ist. Und dann steckt uns allen noch die letzte Rechtschreibreform tief in den Knochen, da man seither ohne Wörterbuch nicht mehr sicher schreiben kann. Vom Coffee-Shop, der Lounge und anderen Highlights zur After-Hour wollen wir internationalistisch aufgeschlossen gerne schweigen. Haben Sie eigentlich schon mal »Gratisgeschenk« gegoogelt? Macht 42 Millionen Einträge. Erst kürzlich berichtete das Hamburger Abendblatt von »runden Kugeln«. Und unsere Kinder? Angeblich schrumpft der von ihnen beherrschte Wortschatz. In den westlichen Bundesländern soll er sich seit den 1970er Jahren sogar halbiert haben. Dazu passen Pläne des Grundschulverbandes, die uns bekannte Schreibschrift (Schul-Ausgangsschrift beziehungsweise vereinfachte Ausgangsschrift) gegen eine Druckschrift (»Grundschrift«) zu ersetzen. Man meint, das Schreibenlernen würde den Kindern damit viel leichter fallen. Besonders Kinder aus dem sogenannten bildungsfernen Milieu bekämen so bessere Startmöglichkeiten im Land der begrenzten Bildungsmöglichkeiten. Kritiker verweisen darauf, daß die persönliche Handschrift dann der Vergangenheit angehöre und der nächste logische Schritt nur der sein kann, die Buchstaben gleich in die Tastatur einzugeben. In Hamburg ist die »Grundschrift« schon möglich. In Bayern wird bald darüber entschieden. In vielen Bundesländern werden bislang erst die Druckbuchstaben gelernt und dann erst die Schreibschrift. Sind wir bald alle schnörkellos? Kringeln wir uns nicht mehr? Der einzeln gestellte Druckbuchstabe, ist das nicht Isolation, Entfremdung und Stanzwerk? Das Einüben der Schreibschrift ist eine Kulturfertigkeit, die gleichzeitig Inhalt und Ergebnis einer hochverdichteten Koordinations- und Konzentrationsleistung ist. Andererseits zeigt die Geschichte der »deutschen Schreibschrift« (Sütterlin, Kurrent), daß Schreibschriften tatsächlich einmal aufgeschüttete Bildungsbarrieren einer aristokratischen Oberschicht waren und bürgerlichen und besonders proletarischen Schichten den Bildungserwerb künstlich erschwerten. Hieße das zukünftig, Bremens Grundschüler drucken und die in Hamburg schreiben in ihre Hefte? In diesem Sinne: »Schakkeline, Schastin, Käwinn – tu die Omma aus Meck-Pomm ma winken! Hagen Bonn
Quelle: "Junge Welt/Feuilleton/21.08.2012
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